Kunstschaffen im Jetzt — Drei Fragen an Monica Ursina Jäger
Kunstbulletin: Welche Fragen hast Du am Anfang dieses neuen Jahres an die Kunst – an die Kunst allgemein und an Deine eigene?
Monica Ursina Jäger: Was bedeutet es, sich in post-natürlichen Räumen zu bewegen? Kann ich mich im Wald auflösen, in Gletscherseen eintauchen und mit Steinen Zeit und Raum neu denken? Kann Vergangenheit gleichzeitig Zukunft, oben gleichzeitig unten sein, damit sich in den Zwischenräumen Möglichkeitsräume öffnen?
Kann Kunst Bilder schaffen, die nicht aus der Welt extrahiert werden? Nicht von ihren ökologischen, kulturellen und spirituellen Verflechtungen losgelöst werden, sondern aus den trüben, belebten, wie auch toxischen Pfützen herauswachsen? Können Kunstwerke aus den Beziehungen zwischen Pflanzen und Bestäubern, Organismen und Biotopen, Wasser und Klima, Bakterien und Sedimenten entstehen?
Kunstbulletin: Was sind in Deinen Augen die grossen Herausforderungen für die Kunst beziehungsweise für Deine Kunst in den kommenden Monaten oder Jahren?
Jäger: Die grosse Herausforderung für die Kunst wird darin bestehen, sich als zur Wissenschaft ebenbürtigen Wissensraum zu behaupten. Wenn das gelingt, kann in der Kollaboration zwischen Kunst, Wissenschaft und Materie ein Wissensraum entstehen, der sich mittels neuer Sprachen, Erzählungen und Ästhetiken die Welt erschliesst.
Um neue Perspektiven für das Leben, die Kunst und die Wissenschaft zu entwickeln, ist es notwendig, sich eine Zukunft zu imaginieren, die im Schlamm verwurzelt ist, in den Bäumen lebt, in den schmelzenden Gletschern freigesetzt und in der DNA unbekannter Arten zu finden ist; aber auch in der Poesie und den Mythen gemeinsamer Vorfahren, dem Zusammenspiel von Lebendigem und Nicht-lebendigem.
Kunstbulletin: Die Kunst ist ein wichtiger Resonanzraum. Gab es im letzten Jahr Momente, Begegnungen, Reaktionen, in denen Du das besonders stark wahrgenommen hast, aus denen Du auch Energie schöpfst fürs Weitermachen?
Jäger: Wer Kunst macht, verliert die Hoffnung nicht. Die künstlerische Praxis kann dabei viele Formen annehmen: Wandern in post-glazialen Landschaften und tief im Erdinnern mit der ETH-Geobiologin Lena Bakker oder klimaresiliente Gärten im Parco des Museo Villa dei Cedri anlegen. Eine zensurierte forstwissenschaftliche Studie konnte ich nach dreissig Jahren als Kunstwerk an die Öffentlichkeit bringen und im Rahmen der Ausstellung ‹Spatial Solidarities› von Studio Other Spaces haben sich neue, translokale und transkulturelle Allianzen gebildet. An den Schnittstellen hört man kein Echo, dafür öffnen sich stetig neue Resonanzräume. Es sind durch die von Kunst, Ökologie und Poesie geschaffene Momente, die das Versprechen auf eine bessere Welt in sich bergen.
➔ Der Dialog war Teil einer Umfrage bei ausgewählten Schweizer Kunstschaffenden zur Stimmungslage Anfang 2024. Die Rückmeldungen aller beteiligten Künstler:innen sind in Auszügen im Kunstbulletin 1-2/2024 erschienen.