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Gianni Jetzer Dein Atelier in Luzern ist in einem Jugendstilhaus
untergebracht. Der Bezug zwischen den floralen Ornamenten des Art Nouveau
und deinen Bilderfindungen ist augenscheinlich. Insbesondere die Bedeutung
der Linie als kompositorisches Element.

Claude Sandoz Es wurde schon verschiedentlich bemerkt und dennoch
sehe ich das anders. Es ist für mich, wenn schon, die japanische Kultur,
die grossen Einfluss auf mein Werk hat. Fast alle meine konstruktiven
Systeme entstehen aus linearen Zeichnungen und der Kraft der Farbe. In
meiner Sammlung sind viele japanische Kunstgegenstände vertreten - jedoch
kaum Jugendstilobjekte.

GJ Blenden wir zurück: Du bist Mitte der Sechziger in Bern mit
figurativen Zeichnungen bekannt geworden. Wie kam es überhaupt dazu?

CS Auf meinen Reisen. Ich bin damals viel gereist und habe bemerkt,
dass ich im Ausland anders, neugieriger und lebendiger bin. Als ich
(1964|1965) drei Monate in Griechenland war, hatte ich das erste Mal unterwegs
das Bedürfnis zu zeichnen und zu aquarellieren. Damals war ich sehr
am Ausdruck von Ikonen und Altären interessiert.

GJ Du warst also in Griechenland und hast gezeichnet. Das tönt
fast ein bisschen nach Orientreise, nach Le Corbusier. Muss man sich
klassische Reiseskizzen vorstellen?

CS Klassische Reiseskizzen habe ich gar nie gezeichnet, im Gegenteil.
Ich malte wilde Aquarelle. Dass es eine Tradition für Orientreisen gab,
war mir damals unbekannt. Ich habe aus einem Bedürfnis, einen Jugendtraum
zu realisieren, gehandelt, ohne zu wissen, was dies mit sich bringt. Ich
wollte einfach die Welt erkunden.

GJ Wieso hast du dich der Figuration zugewendet? Bei Harald
Szeemann in der Kunsthalle Bern war es vor allem die Konzeptkunst, die
im Brennpunkt des Interesses stand. Obschon es natürlich auch figurative
Ausstellungen gab, etwa die Science fiction-Ausstellung, über die man heute
nicht mehr so viel spricht...

CS ... oder eine Ausstellung mit Ex-Voto-Hinterglasmalereien, die
mich nachhaltig beschäftigt hat. Ja, es drängte und interessierte mich,
eine Figur zu gestalten, die als Inhalt symbolisch mein Befinden und
Weltverständnis als Bild repräsentierte. Mit ganz abstrakten Bildkonzepten
wollte ich damals noch nicht arbeiten. Parallel sammelte ich Kelim-Teppiche
aus Persien, der Türkei und dem Kaukasus, japanische Holzschnitte und
Lackschachteln.

GJ Wieso hast du dich als junger Künstler nicht für Raum füllende
Installationen interessiert?

CS Damals war Installation als Medium noch nicht so präsent. Erst
1969/70 wurden mir der Begriff und die Möglichkeit bewusst über die Werke
von Kounellis, Beuys, Thek oder Buthe. Meine ersten Bildversuche waren
figurativ expressiv, in dem Bereich wollte ich arbeiten und Erfahrungen
sammeln. Meine Ausbildung hat ganz banal mit figurativen Aquarellen und
Zeichnungen begonnen. Beim Reisen hatte ich immer das Atelier bei mir. In
Neapel entdeckte ich die Volkskunst und die ganze neapolitanische Schule.
Mich haben Krippenfiguren aus dem 18. und 19. Jahrhundert und der ganze
neapolitanische Barock sowie die Ex-Voto-Bilder wahnsinnig fasziniert.

GJ Was genau hat dich an diesen Figuren so beeindruckt?

CS Vor allem interessierte mich der realistische Ausdruck der
Holz- und Keramikköpfe: die Typisierung eines menschlichen Charakters
ausdrucksvoll auf den Punkt gebracht. Und auch ihre handwerkliche Machart.
Die Kleider etwa waren wunderschön genäht und ornamental gestaltet. Sie
unterstützten den Ausdruck der Köpfe.
Ich erwarb ein ganzes Marionettentheater aus dem neapolitanischen
Ottocento. Im Atelier in Bern habe ich die Figuren aufgestellt und ein
Bühnenbild gebaut. Diese Bühne mit den Figuren habe ich dann als Modell
für meine Zeichnungen und Bilder gebraucht. Da gab es den Harlekin, den
Krieger Orlando aus Sizilien, den Teufel, die Prinzessin... und in all
diesen Kunsttypen erschloss sich für mich eine Welt, mit der ich mich
identif zieren konnte und der ich dann auch auf der Strasse begegnete.

GJ Du hattest diese Figuren in deinem Berner Atelier aufgestellt
als eine Art Installation?

CS Wenn du diese Tischinstallation hier in meinem Atelier anschaust,
dann war es im Prinzip recht ähnlich. Seither habe ich das auf all meinen
Reisen immer wieder gemacht. Ich habe Dinge, die mich interessieren,
gesammelt und um mich herum in Hotelzimmern und Ateliers installiert
und danach gearbeitet. Das Marionettentheater hatte Modellcharakter. Das
Strassenleben wurde für mich dadurch verkörpert: die Kultur der Neapolitaner.
Ich habe mich am Andersartigen gerieben, um herauszuf nden, was
ich eigentlich sein will und was ich machen will. Das gilt eigentlich bis
heute für meine Reisen und meinen Arbeitsstil.

GJ Wann hast du damit begonnen, deine Installationen auszustellen?

CS Das war damals kein Thema. Ich hatte zwar einen progressiven
Galeristen, dennoch war es nicht vorstellbar, ein Marionettentheater als
eigenständiges Kunstwerk auszustellen. Nein, ich machte Zeichnungen und
wurde damit zu einem, wie man heute sagen würde, « Shooting Star ». Ich
habe viele Preise und Stipendien bekommen mit meinen grossformatigen
Bleistiftzeichnungen. Damals galt dies als neuartig und ein wenig «daneben».
Meine erste Installation « Mister Sun and Missis Moon » wurde bei
Toni Gerber in Bern 1973 ausgestellt. Eine Installation mit Wänden voller
Zeichnungen und bemalten Tüchern, blauen und roten Neonröhren und einem
Rock ?n? Roll spielenden Gitarristen, der als Clown geschminkt und gekleidet
war - mit sehr viel Glimmer auf dem Galerieboden. Die elektrische Gitarre
war laut. Die Polizei kam. Wir mussten aufhören mit dem so genannten
elektrischen Krach.

GJ Du hast also die akademische Gattung der Zeichnung aufgebrochen,
indem du ein plakatives Format dafür gewählt und es durch Performances
erweitert hast?

CS Grossformatige Zeichnungen zu machen, war damals ungewöhnlich.
Die Machart und der Inhalt meiner Zeichnungen in der damaligen Kunstszene
waren auffallend unüblich. Ich wurde oft gefragt, ob diese Zeichnungen
Skizzen wären für Bilder. Ich verneinte stets.
Zeichnungen an sich wurden allgemein erst ab Mitte 70er-Jahre als
eigenständige Kunstwerke akzeptiert. Ich war der Jüngste in dieser Berner
Szene, als 20-Jähriger. Meine Entscheidung zu zeichnen, erwies sich für mich
als richtig. Ich merkte relativ früh, dass ich noch keine eigene Sprache
hatte, alle diese Tricks und Stils, die man in der Kunstgewerbeschule
kennenlernte, wollte ich nicht einfach imitieren. Szeemanns Ausstellung
« When Attitudes Becomes Form » 1969 wühlte mich ziemlich auf, sie zwang
mich, radikal Stellung zu beziehen. Dies gilt auch für die Ausstellungen
in der Galerie von Toni Gerber, die für mich als Ort der Begegnung genau
so wichtig war wie die Kunsthalle.

GJ Obschon ich dein riesiges Werk nur fragmentarisch überblicke,
fällt mir auf, dass das Ornament ein Schlüsselelement in deinem Werk
darstellt. Woher kommt diese Faszination?

CS Es stimmt, dass mich das Ornamentale fasziniert. Bei meinen
ersten Reisen, vor allem im Museo Nazionale in Neapel, habe ich entdeckt,
dass überall, von der so genannt hohen Kunst bis zur Volkskunst das
Ornament eine wichtige Rolle einnimmt. In der Architektur, auf den Fresken
von Pompeji, auf Orangenpapieren aus Sizilien, in der ganzen religiösen
Volkskunst, im Möbeldesign bis zum Tischtuch, zur Serviette, dem Besteck
und auf Stoffen, überall hat es Ornamente. Bei meinen späteren Reisen in
den Orient war die grosse Entdeckung eine Ornamentkultur auf dem Höhepunkt
zu erleben, z.B. in Persien oder in Indien bis Südostasien. Was ging mich
das alles an? Es ging mich als Phänomen etwas an, insofern ich es als eine
Form von universaler Sprache entdeckte.
Das Ornament ist auch immer Symbol, einige davon bleiben für
mich bis heute rätselhaft. Es ist eine der ältesten Formen künstlerischen
Ausdrucks und hat auch einen philosophischen Inhalt. Das Multiplizieren und
Aneinanderreihen eines Zeichens ergibt Bewegung, Veränderung und Rhythmus,
bringt Dynamik und zugleich Statik zum Ausdruck.

GJ Du gehst sehr breit vor, siehst Einflüsse für dein Werk in Ornamenten
aus der maurischen Kultur oder sogar in gewissen Pattern der De-
Stijl-Bewegung in Holland? Könnte man dich als Ornament-Sampler bezeichnen?

CS Nicht nur Ornamente. Ich bin ein totaler Sampler des ganzen
mir bewussten Lebens und ich versuche eine Antwort zu geben auf das, was
ich sample und mich bewegt. Ich versuche, die einzelnen Elemente als
Basismaterial zu verwenden, mit dem ich ein neues Bild bauen kann. Ich
mixe auch Musik. Die Musik hat übrigens auch etwas Lineares. Sound und
Farben haben eine starke Korrelation. Für mich funktionieren Farben ganz
ähnlich wie Sounds. Der Farbsound eines Bildes, die Emotionalität der
Farben ist immer noch dieselbe, wenn man das Bild verkehrt anschaut. Die
Bedeutung und Lesbarkeit der Zeichnung sind, verkehrt gelesen, schwieriger
zu erfassen. Deswegen betrachte ich Farben als das wichtigste und stärkste
Element in einem Bild.
Musik hat mich von Anfang an begleitet. Ich mache seit Jahren
immer wieder Tapes mit Samples, die ich mit elektronischen Instrumenten
mixe, welche ich selber spiele. Ich eigne mir die Dinge an, die mich
faszinieren, und versuche, ihnen meinen Stempel aufzudrücken. Am Anfang
hatte ich ein Ziel, eine bestimmte Absicht, aber noch keine Sprache, um es
auszudrücken. Das war mein Problem als junger Künstler. Mich interessierte
es weder zu tachieren, noch Pop Art zu machen, etwa nach Rauschenbergs
Biennale-Erfolg mit seiner Ziege, die kurz darauf auch in Bern ausgestellt
wurde. Ich verstand die ganze Aufregung nicht ganz und auch nicht die
weltweite Bedeutung dieses neuen Stils. Mein Problem war, dass mich alle
möglichen zeitgenössischen Phänomene interessierten wie auch die alte
Kunst, Volkskunst, Kunst anderer Kulturen usw. Was könnte dies alles für
mein Werk bedeuten? Meine Antwort darauf war zu sampeln, alles Mögliche
auszuprobieren und zu mixen. An dem Entlehnten entzündet sich meine
Phantasie und Erfindungsgabe.

GJ Wann hast du begonnen nach seriellen Prinzipien zu komponieren?

CS Das war anfangs der siebziger Jahre beim Hören der Musik
von Terry Riley. Ich verlor das Interesse an der Einzelzeichnung. Die
Serie wurde wichtiger. Ich zeichnete nur noch mit Punkten und Linien,
so direkt wie möglich. Die Art und Weise, wie ich vorging hatte sich
grundsätzlich geändert. Blöcke von über 1000 A4-Zeichnungen organisierte
ich chronologisch an meinen Atelierwänden und studierte ihren Fluss, die
auftauchende Thematik und die Prozesshaftigkeit meines Vorgehens.

GJ Es eröffnet sich im übergreifenden Muster ein Bildraum, der die
Zweidimensionalität einer flachen Darstellung überwindet und trotzdem weit
vom kartesianischen Raum entfernt ist. Dazu gehört der bewusste Verzicht
auf die Zentralperspektive. Du hast für dich einen synthetischen Bildraum
entwickelt, indem Ornament und Serialität eine wichtige Rolle spielen. War
das eine bewusste Entscheidung oder hat sich das einfach so ergeben?

CS Das Ganze hat sich in einem Prozess entwickelt. 1969 war ich
als Stipendiat im Istituto Svizzero in Rom, in diesem grosszügigen Turmatelier
mit grossen Fenster und Panoramablick auf die ewige Stadt. Und
war wie blockiert. Kurz davor reiste ich sieben Monate auf dem Landweg
bis nach Indien. Diese Reise war für mich eine Zäsur. Ich war kaum fähig,
meine Eindrücke in Bildern zu verarbeiten: Alltagsleben, Landschaften,
Kunst, alles was ich angetroffen hatte. Ich wusste nicht, dass die Welt
solches zu bieten hatte. Ich war zwar auf einem katholischen Internat
gewesen mit gescheiten Dominikanermönchen, Jesuiten, Kapuzinern, Franziskanern,
die viel von der Welt wussten, aber dennoch blieb alles auf
einer theoretischen Ebene. Die künstlerischen Mittel, welche mir zur Verfügung
standen, reichten nicht mehr aus, um ein Bild meines Erlebens zu
malen, das mich wirklich interessierte. Im Istituto begegnete ich Johannes
Gachnang. Durch Johannes hörte ich zum ersten Mal Musik von Lou Reed, er
zeigte mir Bilder von Chaissac, Penck und anderes, mir damals unbekanntes
Bildmaterial. Seine eigene Arbeitsweise und Geduld bewunderte ich. In
dieser Zeit versuchte ich, mich in einer Art Hyperrealismus auszudrücken.
Dies fand ich aber nicht befriedigend und ich zerschnitt alle Leinwände,
die ich gemalt hatte. Johannes brachte mir das Radieren bei, eine Technik,
bei der ich nichts mehr so machen konnte wie bisher. Diese Technik
eröffnete mir neue Ausdrucksmöglichkeiten, die zu einer für mich völlig
neuen Arbeitsbasis führte. Ein zwar spannender, doch nicht immer voll
bewusster und kontrollierter Prozess begann. Einige Zeit danach bemerkte
ich, dass mich das Ornamentale immer mehr interessierte. Spuren davon sind
allerdings in meiner allerersten künstlerischen Phase schon vorhanden.
GJ Kurz davor hast du politische Gegebenheiten in deine Arbeit
einfliessen lassen?

CS Richtig. Und zwar ziemlich plakativ. Ausdruck und Thema meiner
Zeichnungen habe ich nach den ersten Aufständen der Black Panthers in
Amerika 1968 erweitert. Im gleichen Jahr ging ich auch nach Paris, als ich
über Radio Luxemburg von den Unruhen erfuhr. Ich wollte das selber sehen
und dabei sein. Ich war schockiert über die Gewalt beider Seiten. Ich habe
Zeichnungen und Aquarelle und Ölbilder gemacht, die sich mit der Gewalt
an Schwarzen auseinandersetzte (Werktitel der Arbeitsgruppe «Neger»). Ich
habe alle Klischees über die Schwarzen dargestellt, die mir bekannt waren:
Hannibal, der Mohrenkönig, der schwarze Prinz, schwarze Boxer, der schwarze
Gehängte und schwarze Sklaven, die eine Zigarren rauchende und Peitschen
schwingende fette Weisse bedienen, bis zu Gorgui aus «Notre-dame-des-
Fleurs» mit seinem Riesengeschlecht ? damals las ich gerade Jean Genet.
Mir gingen gewissermassen das Wissen und die Fantasie aus, nachdem
ich alle möglichen Formen der Gewalt gezeichnet hatte und diese Werkphase
bei der neu gegründeten Galerie Martin Krebs in Bern ausgestellt worden
war. An der Vernissage gab es Mohrenköpfe und Moro-Orangen. Die Papiere
davon hatte ich übrigens auch in Bleistift gezeichnet. Das war der Abschluss
dieser Werkphase.

GJ Wenn ich rekapituliere, dann erinnern mich deine Lehr- und
Wanderjahre fast ein wenig an « Candide » von Voltaire. Mit der gleichen
Offenheit und Begeisterung hast du die Welt entdeckt. Zuerst das
katholische Internat mit der ganzen Bildwelt religiöser Darstellungen, die
Multimedialität, das Gesamtkunstwerk der Messe mit ihren synästhetischen
Erlebnissen. Dann gehst du nach Neapel und entdeckst, dass ausserhalb
der Kunstgeschichte und der christlichen Ikonographie noch ganz andere
Bilder produziert werden. Du entdeckst den Freistil der Strasse, profane
Bildlosungen. Im folgenden begreifst du, dass die Welt komplexer ist,
als es in der Klosterschule gepredigt wurde, dass die Menschen blutige
Konflikte austragen. Darauf reagierst du vorerst, um dich dann abzuwenden
und einen abstrakteren Weg einzuschlagen. Dein künstlerischer Kommentar
zur Welt ist letztlich ein abstrakter geworden...
CS Dies ist eine interessante Interpretation, dies scheint meine
Bewegung zu sein.
GJ Je mehr du dich auf deinen Reisen aus dem christlichen
Kulturraum heraus bewegt hast, desto mehr hast du dich für das Ornament
interessiert?
CS Erst durch den Umweg des Reisens habe ich vor Ort verschiedenste
Formen des Ornaments entdeckt, denen ich vorher keine Beachtung geschenkt
hatte. In fast jeder italienischen Kirche gibt es einen fantastischen,
ornamentalen Boden, Stuckaturen und farbige, zum Teil abstrakte Glasfenster.
Im Gegensatz zur Ikonographie gibt es hier eine grosse Freiheit in der
Gestaltung. Das Diktat der Ikonographie gilt hier nicht. Übrigens wurde
auch damals alles Mögliche gesampelt. Die Madonna etwa ist gar keine
römische Erfindung, die ist phönizisch oder sogar indisch, die gibt es
schon seit tausenden von Jahren mit allen Attributen. Auch Weihnachten
oder Ostern sind doch Samples, die von germanischen, keltischen und anderen
Traditionen herkommen.
In Persien, nach der Begegnung mit den Ornamenten, in Isfahan, Shiraz, usw.
fragte ich mich, was mich eigentlich so besonders interessiert, an dem
was ich sah. Meine gedankliche Reaktion und die Emotion verblüfften mich.
Meine Phantasie kam in Bewegung, liess Gedanken zu, die ich so noch nie
gedacht hatte, ich war im wahrsten Sinne des Wortes « völlig begeistert ».
Die Gedanken hatten mit Visionen zu tun. Traumhaft wiesen sie über den Status
Quo der realen physischen Welt mit den dahergehenden Problemen hinaus.
Auch fand ich, dass ornamentale Gestaltung visuell unglaublich attraktiv
auf mich wirkte, beinahe so wie eine vorüberschwebende Fee. Doch bis ich
Ornamentales in mein bildnerisches Vokabular einführte, verging viel Zeit.

GJ Gibt es eine Verwandtschaft zwischen deinem und dem Werk von
Nic Hess? Er synthetisiert Firmenlogos, Sympathieträger, die Linie ist ihm
sehr wichtig als Verbindung zwischen den heterogenen Elementen. Deine
Bezugsquelle ist viel breiter, ich sehe dich als breiten Scanner, der
ziemlich viele Elemente aufnimmt, und sie zu Bildteppichen synthetisiert.
Interessanterweise wird im Zusammenhang mit Klang auch von Teppichen
gesprochen.

CS Das ist eine gute Beobachtung. Verschiedene Arbeiten in meinem
Werk haben einen engen Bezug zur Musik und Rhythmus und ich liebe Teppiche.
Gewisse Fachwörter treten in beiden Disziplinen mit der gleichen Bedeutung
auf. Das interessiert mich.
Arbeiten von Nic Hess habe ich als Juror der Bundesstipendien früh kennen
gelernt. Seine Kunst hat mich angezogen, gewisse gemeinsame Interessen
sind nicht von der Hand zu weisen.

GJ Als zusätzliche Ebene hast du dich in den letzten Jahren
regelmässig und über längere Zeiträume in der Karibik aufgehalten. Die
Tropen sind eine Bildwelt von grosser Intensität...

CS ... und wahnsinnig ornamental. In der Architektur etwa. Die
eigentliche Bildproduktion ist meistens naiv und bunt und interessiert
mich weniger - mit Ausnahme wirklicher Art Brut. In den letzten acht Jahren
war ich oft in St. Lucia und habe dort gearbeitet. Die Kultur und die
Lebensfreude und Schönheit der Menschen dieser Insel hat mich beeinflusst
ebenso wie das Klima, die Geologie und die Pflanzenwelt, hauptsächlich aber
begeisterte mich die dort gespielte Musik (Soca-Soul Calypso) und das
Tanzen. All dies versuchte ich in den letzten Jahren in meine Arbeiten
einfliessen zu lassen. Der Arbeitszyklus steht vor dem Abschluss.
Muster sind überall anzutreffen. In der Art Brut, in der
Volkskunst bis zur hohen Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts gibt es sehr
viel Ornamentales. Da muss man nicht mal einen Gauguin oder Matisse
bemühen, sogar ein Picasso hat sich dessen bedient und auch viele meiner
zeitgenössischen Kollegen. Um zu abstrahieren, ist das Ornament ein wunderbares
Vehikel. Wenn es nicht bloss mechanisch umgesetzt wird, sondern
künstlerisch, kann es spannende Möglichkeiten erschliessen. Mein Interesse
für das Ornamentale geht wahrscheinlich auf ein persönliches Erlebnis
zurück. Als Kind verbrachte ich die Ferien oft bei meinen Grosseltern in
Freiburg. Wir haben einmal in der Kathedrale gespielt. Ich war ein Räuber
und hatte mich im Beichtstuhl versteckt - einer dieser schweren, dunklen
Barockbeichtstühle. Ich guckte raus, ob mir die Polizei auf den Fersen
war und da ich niemand sah, schaute ich zu den Kirchenfenstern hinauf,
durch welche das Sonnenlicht strahlte. Sie gelten weltweit als eines der
schönsten Beispiele für Jugendstilfenster. Gebannt schaute ich auf die
Glasfenster und auf diese biblischen Gestalten, Schlangen, Dämonen - jeder
Ausdruck ist vertreten, von der schönsten Frau bis zum bösartigen König
David, der Kinder mit dem Schwert teilen lässt. Es ist eine bildhafte
Sprache voller Ausdruck. Was mich jedoch noch nachhaltiger faszinierte, war
die Farbkraft des Lichtes durch das transparente Glas und das Ornamentale.
Dieses Erlebnis zu verstehen und zu entschlüsseln, hat mich nachträglich
immer wieder beschäftigt.

GJ Es fällt mir auf, wie detailverliebt du bist. Deine Wahrnehmung
unterscheidet nicht zwischen Zentrum und Peripherie. Du nimmst einfach
alles wahr. Die Beobachtung wird zum schier unendlichen Akt. Diese
Komplexität des ergiebigen Nebeneinanders findet man auch in der Struktur
deiner Kompositionen, die voller kleiner Details sind.

CS Wahrscheinlich bin ich in das Leben verliebt. Verliebt zu sein
ist aber ziemlich problematisch. Mir stellte sich die Frage: Wie kann man
Erleben überhaupt in visuelle Zeichen umsetzen? Wie kann man vielfältige
Aspekte bündeln? Ich spreche mit dir und höre viele Geräusche, ich spüre
den Druck des Stuhles sowie einen leichten Schmerz im Rücken, ich muss ein
bisschen gerader sitzen (setzt sich auf und streckt seinen Rücken), rauche
eine Zigarette. Wie kann ich das darstellen? Es gibt die kubistische
Idee des Polyperspektivischen als einen Versuch, Realität in den Griff
zu bekommen. Eine wichtige Prämisse war das Werk von Francis Picabia, das
mir Sigmar Polke näher gebracht hatte anfangs der siebziger Jahre. Seine
Erfindung des Bildes im Bild hat mich beschäftigt. Gleichzeitig begann ich
mit Geflechten von Linien zu experimentieren, zum Teil achsensymmetrisch
mit Spiegelungen. Ein Spiel mit Vielheiten.

GJ Ich finde es verblüffend wie du alles synthetisierst. Manchmal
habe ich das Gefühl, du eignest dir sogar naive Bildsprachen an, ganz
bewusst und als Werkzeug.

CS Es ist Teil meiner Arbeitsmethode, alles, was mir adäquat erscheint,
für meine Zwecke zu gebrauchen. Es gibt auch den Moment, wo ich
Erlebtes spontan aus einem Gefühl heraus umsetze. Ich habe in den neunziger
Jahren die Archive im Textilmuseum in St. Gallen gesehen - das hat mich
umgehauen. Ein Reich an ornamentalen Mustern und Ordnungen, einmalig
und allesamt von anonymen Künstlern entworfen, die ein faszinierendes
Erbe geschaffen haben. Für mich ist anonyme Ornamentik gleichwertig mit
Meisterwerken in den grossen Museen der Welt. Ich habe einst entschieden,
alle mich ansprechenden Zeichen zu gebrauchen und zu verarbeiten, um zu
einer eigenen Sprache zu kommen. Ich liebe die Tätigkeit, meine Bildsprache
weiter zu entwickeln und alles aufzunehmen, was mir dabei hilft. Und bin
neugierig, wohin dies mich noch führen wird.

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Claude Sandoz