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Hans-Joachim Müller: Sie leben in einem Land, in dem es keine
verbindliche Sprache, in dem es lauter unterschiedliche Sprachen
gibt. Eigentlich muss der Schweizer - ausserhalb seines
engeren Lebenskreises - immer übersetzen.

Catherine Schelbert: Das stimmt, aber es ist in jedem Land so.
Überall gibt es Dialekte und Mehrsprachigkeit. Denken Sie nur
an die Sprachsituation in den USA. Da sprechen Millionen
Spanisch, da gibt es von Norden nach Süden viele Dialekte, da
gibt es die Sprache der Afroamerikaner, Ebonics und vieles
mehr. Amerika ist ein Einwanderungsland mit vielen Sprachen
und Kulturen, vielfältiger als die Schweiz. Auch da muss im
Alltag ständig übersetzt werden.

Hans-Joachim Müller: Und wenn sich dann doch immer wieder
eine Sprache unter vielen Sprachen als Amts- oder Führungssprache
herausbildet, hat das dann mit der besonderen Struktur
dieser Sprache zu tun?

Catherine Schelbert: Ich glaube nicht. Es hat eher mit Grösse,
Quantität und Macht zu tun. Die Kolonien Englands waren
einfach am verbreitetsten. Mit der Struktur einer bestimmten
Sprache hat das nichts zu tun.

Hans-Joachim Müller: Zu dieser Sprachrealität gehört das Übersetzen.

Catherine Schelbert: Übersetzen ist grundlegend. Alles muss
übersetzt werden, nicht nur Sprachen. Wir müssen ständig von
einem Zeichensystem ins andere übersetzen. Wenn ich z.B. für
die Kunstzeitschrift PARKETT einen Text übersetze, dann ist
dieser bereits schon eine Übersetzung; es sind Bildzeichen in
Sprache übersetzt worden.

Hans-Joachim Müller: Auch wenn wir uns hier auf Deutsch unterhalten,
müssen wir ständig innersprachlich übersetzen und
fragen, wie meinen Sie das? Wörter und Sätze sind nicht wie
feste Backsteine, sondern gleichen eher chemischen Elementen,
die je nach Kombination und Kontext neue Verbindungen mit
neuen Bedeutungen eingehen. Ohne ständige, auch innersprachliche
Übersetzung ist Verstehen gar nicht möglich. Gibt es nicht
auch einen Sprachgebrauch, bei dem kein Übersetzen erforderlich
ist, jedenfalls nicht als bewusster Vorgang? Wenn wir zum
Beispiel an den mündlichen Gebrauch der Muttersprache denken
- im Gegensatz zum schriftlichen, der ungleich mehr
Sprachbewusstsein verlangt.

Catherine Schelbert: Jedes Wort, auch das mündliche, kann so
oder so ausgelegt werden. Man kann im Namen von «Frieden»
für Krieg plädieren. George Orwell hat das in seinem Werk
«198 4» mit dem «Newspeak» programmatisch dargestellt. Wörter
können wie Gummi gedehnt und verbogen werden, das müssen
die Gesprächspartner ständig durchschauen, also übersetzen.
Übrigens müssen die Wörter wie Gummi sein, damit sie sich
in alle Kontexte einnisten können. Das braucht ständige innersprachliche
Übersetzungsarbeit - ausser im Streitgespräch, wo
natürlich auf bestimmten Bedeutungen beharrt wird und keine
semantische Offenheit zugelassen wird, wie z.B. in den Dis
kussionen in der Sendung ARENA des Schweizer Fernsehens.
Das Gummige ist übrigens durchaus etwas Positives. Das gilt
besonders für den Spracherwerb. Wenn unser Kind aus der
Schule kommt (2. Klasse) und erzählt, ein Kind habe «Pepsilepsie»,
dann übersetzt es das Wort, das es nicht kennt - Epilepsie
- in ein Wort, das ihm vertraut erscheint. Diese Umsetzungsmöglichkeit
ist eine wichtige sprachliche Eigenschaft. Was uns
unbekannt ist, übersetzen wir ins Bekannte. Das Bewusstsein
für das richtige oder treffende Wort setzt erstaunlich früh ein.
Meine Nichte erzählte mir von einem Gespräch mit ihrem vierjährigen
Kind: «I asked him if he wanted to come and cuddle a
little bit. He almost got angry with me - No, not cuddle, mommy!
I want to snuggle with you.» Noch ein Beispiel für die ungeheure
Bewusstseinsleistung beim Sprechen. Kinder plappern spontan
alles richtig nach. Plötzlich aber merkt z.B. das Englisch sprechende
Kind, dass die Vergangenheit mit «-ed» markiert wird,
und wendet nun selbstkorrigierend diese Regel bei allen Verben
an, sagt also: «I putted my socks on.» Es braucht dann eine gewisse
Zeit, bis sich die so genannten unregelmässigen Formen
wieder durchsetzen.

Hans-Joachim Müller: Bewusstsein für Sprache als ein eigenes
System wäre zugleich Bewusstsein für die Übersetzungsbedürftigkeit
vom einen System ins andere?

Catherine Schelbert: Was «übersetzen» heissen könnte, zeigt eine
witzige Anekdote von Kleist mit dem Titel «Rätsel». Ich möchte
es Ihnen vorlesen: «Ein junger Doktor der Rechte und eine
Stiftsdame, von denen kein Mensch wusste, dass sie miteinander
in Verhältnis standen, befanden sich einst bei dem Kommandanten
der Stadt, in einer zahlreichen und ansehnlichen
Gesellschaft. Die Dame, jung und schön, trug, wie es zu derselben
Zeit Mode war, ein kleines schwarzes Schönpflästerchen
im Gesicht, und zwar dicht über der Lippe, auf der rechten Seite
des Mundes. Irgendein Zufall veranlasste, dass die Gesellschaft
sich auf einen Augenblick aus dem Zimmer entfernte, dergestalt,
dass nur der Doktor und die besagte Dame darin zurückblieben.
Als die Gesellschaft zurückkehrte, fand sich, zum allgemeinen
Befremden derselben, dass der Doktor das Schönpflästerchen
im Gesicht trug; und zwar gleichfalls über der Lippe, aber auf
der linken Seite des Mundes.» So geht es zu beim Übersetzen.
Was vorher rechts war, ist nun links, doch es ist immer noch
ein Pflästerchen, sogar ein Schönpflästerchen, und es befindet
sich noch immer über der Lippe. Nichts ist verloren gegangen.
You don?t lose things in translation; you find them. Das ist das
Auf- und Anregende beim Übersetzen.

Hans-Joachim Müller: Was macht denn eine gute Übersetzung
aus, was fehlt der schlechten? Gibt es verbindliche Kriterien
dafür?

Catherine Schelbert: Es gibt so viele Theorien. Nur darf das
Schönpflästerchen nicht verletzt und auch nicht ungebührlich
verschoben werden, es darf also nicht etwa auf der Nase
landen.

Hans-Joachim Müller: Gibt es Texte, die unübersetzbar sind?

Catherine Schelbert: Nein, das glaube ich nicht, sonst gäbe es
keine Bibelübersetzungen. Unser Handwerk hat sich über Jahrhunderte
vor allem an Bibelübersetzungen herausgebildet und
herauskristallisiert. Was wäre die englische Sprache ohne die
King-James-Version der Bibel oder das Deutsche ohne die Pionierarbeit
von Martin Luther.

Hans-Joachim Müller: Der Philosoph Heidegger hat mal gemeint,
wirklich gross denken könne man nur in der deutschen Sprache.
Das mag eine dieser teutonischen Geistesvermessenheiten sein,
aber die Frage ist ja doch interessant, ob es vielleicht bestimmte
Zuständigkeiten der Sprachen gibt, ob also eine bestimmte Art
und Weise des Philosophierens abhängig ist von der Struktur
der Sprache, in der dieses Philosophieren geschieht.

Catherine Schelbert: Die Sprache hat sicherlich einen Einfluss
auf unser Denken. Im Englischen steht das Verb normalerweise
gleich nach dem Subjekt und im Deutschen am Ende eines
Satzes. Das sind verschiedene Arten, einen Gedanken zu entwickeln.
Das führt zuweilen dazu, dass Autoren unglücklich
sind, wenn man in der Übersetzung ihre Wortstellung ändert,
weil sich dadurch Betonung und Bedeutung verschieben. Es
geht hier, wie Sie sagen, um die unterschiedlichen Strukturen
der Sprachen. Dazu kommt, dass die Deutsch Sprechenden substantivischer
denken und wir eher verbal. Man kann im Deutschen
alles substantivieren, was im Englischen nicht so reibungslos
geht.
Aber das Denken spielt sich nicht nur in sprachlichen Zeichen
ab, sondern vor allem auch in Bildern, in Bildzeichen, die viel
beweglicher sind. So wird die starre Struktur einer Sprache
durch bildhaftes Denken gleichsam überwunden.

Hans-Joachim Müller: Was war Ihr schwierigster Übersetzungsfall?

Catherine Schelbert: Das ist schwierig zu beantworten. Ich
denke an die spannende Auseinandersetzung mit den Fragen
von Peter Fischli und David Weiss. Ihre Wörter sind so einfach,
man kann sie «spielend» übersetzen, und zugleich sind sie unendlich
kompliziert. Bei Heidegger ist das Spiel mit den Worten
markiert, er spielt mit dem Laut der Wörter wie die Dichter, die
Übersetzung ist gewarnt. Bei Fischli / Weiss hingegen liegt
vieles zwischen den Zeilen versteckt. Wir mussten lange über
die Frage «War früher alles schöner?» nachdenken, denn die
Fragen müssen auf Englisch genauso lapidar tönen wie auf
Deutsch. Sie dürfen nicht gestelzt wirken. Das Wort «früher»
wird oft im Englischen verbal wiedergegeben: «used to be».
Aber «Did everything use to be more beautiful?» tönt eben gestelzt.
So redet man nicht. Es hat viel gebraucht, bis wir auf die
Idee kamen, «schön» in «schlecht» zu verkehren, nämlich: «Is
everything worse than it used to be?»
In dem Katalogband «Fischli / Weiss: Fragen & Blumen» übersetzte
mein Mann den Text von Francesco Bonami. Das fiktive
Gespräch beginnt so: «Mr. Fischli, I assume, Mr. Weiss, I presume
». Der englische Leser merkt sofort, dass es sich dabei um
eine Anspielung auf die Begegnung zwischen Stanley und
Livingstone handelt, eine Anekdote aus der Geschichte der Ent-
deckung Afrikas im 19. Jahrhundert. Das ist unser kulturelles
Erbe. Aber wie übersetzt man das? «Mr. Livingston, I presume»
gibt es einfach nicht auf Deutsch. Wir haben uns das drei Tage
lang überlegt, haben alle möglichen Varianten probiert - «Herr
Fischli, nehme ich an», «Herr Fischli, nicht wahr», «Herr Weiss,
oder nicht?» - aber sie haben uns alle nicht befriedigt. Irgendwann
war dann die Idee da, es so zu sagen: «Meister Petz, nicht
wahr, Meister Ratz, oder nicht?», was eine Anspielung auf die
Rollen Bär und Ratte ist, die Fischli und Weiss in ihren Filmen
gespielt haben.

Hans-Joachim Müller: Ist der Übersetzer oder die Übersetzerin
wie der Autor oder die Autorin; möchten sie auf ihre guten
Einfälle ganz allein kommen?

Catherine Schelbert: Übersetzen ist einer der wenigen Berufe,
nein, nicht Berufe, «endeavours», Tätigkeiten, bei denen Teamwork
wirklich produktiv ist. Es macht unglaublich viel Spass,
sich wie bei «Mr. Fischli, I assume, Mr. Weiss, I presume» gegenseitig
die Anregungen zuzuspielen und auf diese zu reagieren.
Ich arbeite oft mit den Übersetzerinnen Ishbel Flett und Fiona
Elliott in Edinburgh zusammen. Wir probieren zu zaubern, wie
die drei Hexen aus Macbeth, wenn sie raunen: «Fair is foul and
foul is fair». Schlegel-Tieck (auch ein Team) übersetzen diese
Zeile so: «Schön ist hässlich, hässlich schön». Und in einer
Basler Aufführung hiess es: «Schön ist scheiss und scheiss ist
schön». Jede Generation muss ihre Klassiker neu übersetzen.
Übersetzen hat viel mit Tönen und Tonlagen zu tun. Man versucht,
einen bestimmten Sound wiederzugeben. Bei der schönen
Kombination «Stich- und Stichelwörter» möchte man den Stabreim
erhalten. «Headwords and gibes» wäre eine korrekte Möglichkeit,
aber das Poetische fehlt. Ich habe mich dann für «Titles
and Taunts» entschieden. Es sind langsame Prozesse, und sie
gelingen besonders gut, wenn man Ideen austauschen kann.

Hans-Joachim Müller: Und was, wenn sich trotz gemeinsamer
Anstrengung nichts finden lässt, was mit dem Sinn auch den
Ton trifft?

Catherine Schelbert: Dann mit Mut in den Untergang. Oder
Studium der Bibelübersetzungen als Trost für unmögliche kulturelle
Hindernisse, die da überwunden werden müssen (also
mit Bravour auf der Nase landen).
Im Internet bin ich zufällig auf eine australische Bibelversion
gestossen. Da heissen die drei Weisen aus dem Morgenlande
«the eggheads from the east». Mir gefällt das.
Es ist klar, dass manches tatsächlich nur auf Umwegen übersetzbar
ist. Ich habe das vor Jahren gelernt, als ich eine Übersetzung
im Spektrum der Wissenschaft gelesen und sie mit dem
englischen Original verglichen habe. Es gab da ein Wortspiel,
das nicht übersetzbar war, für das der deutsche Übersetzer aber
an anderer Stelle ein deutsches Wortspiel eingesetzt hat, das so
nicht im Original stand, aber haargenau zum Ton des Artikels
passte. Das war eine wunderbare Lehre für mich.

Hans-Joachim Müller: Wie wichtig ist es für Sie als Übersetzerin
von Texten zur Kunst, auch die Künstler zu kennen? Haben
Sie Kontakte zu den Künstlern, müssen Sie ihre Arbeit verstehen?

Catherine Schelbert: Der Kontakt ist äusserst wichtig. Es ist
undenkbar, wenn ein Autor bildliches Material ins Schriftliche
übersetzt hat, das in eine andere Sprache zu übersetzen, ohne
dass man das Werk kennt. Gerade weil man isolierte Wörter
nicht übersetzen kann. Ich erinnere mich an einen Fall, bei dem
der Künstler Schaum benutzt hat. Das könnte im Englischen
«foam» sein oder «suds», wobei «suds» den Seifenschaum im Bad
meint. Man muss also wirklich das Werk kennen, um entscheiden
zu können, um welche Art von Schaum es sich hier handelt.
Ich denke auch, dass es unerlässlich ist, genaue Kenntnisse des
Landes zu besitzen, in dessen Sprache man übersetzen will. Sie
können die Problematik, wenn solche Kenntnisse fehlen, am
Verhalten der Amerikaner im Irak studieren. Die Leute im FBI
oder in der CIA machen sehr schnell Karriere und haben nicht
die Zeit, Arabisch zu lernen, weil sie in zwei Jahren vielleicht
schon wieder woanders sind. Wenn man die Sprache und mit
der Sprache auch die Kultur nicht versteht, sind Fehlentscheidungen
und Fehlverhalten vorprogrammiert.

Hans-Joachim Müller: Sie arbeiten nicht in erster Linie als literarische
Übersetzerin, Sie übersetzen vor allem Texte über und
Texte zur Kunst. Wie sind Sie dazu gekommen?

Catherine Schelbert: Eher zufällig.

Hans -Joachim Müller: Sie hätten auch Kleist oder Heidegger
übersetzt?

Catherine Schelbert: Kleist vielleicht schon, Heidegger eher
nicht. Übrigens sind viele Texte über Kunst auch literarische
Texte. Was wären Platon oder Walter Benjamin ohne ihre künstlerischen
und literarischen Qualitäten. Man macht natürlich
das, was man am besten kann, wo man sich am sichersten fühlt,
wovon am meisten versteht. Und ich habe mich langsam in das
Gebiet der modernen Kunst einarbeiten können, wobei die
Kenntnisse auf dem Gebiet der zeitgenössischen Kunst erst beim
Übersetzen der Beiträge für PARKETT gewachsen sind.

Hans-Joachim Müller: Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass
sich das Englische so durchgesetzt hat, dass es daran ist, die
eigentliche Lingua franca zu werden?

Catherine Schelbert: Es ist wie gesagt vor allem eine Folge der
politischen, militärischen und kulturellen Vormachtstellung
der Engländer vor hundert Jahren und heute der USA.

Hans-Joachim Müller: Nicht an der Sprache selber? Es gibt nichts,
was diese Sprache strukturell jünger, leichter, instrumenteller
sein lässt?

Catherine Schelbert: Nein, das glaube ich nicht. Jedenfalls liegt
der Erfolg dieser Sprache nicht in ihrer angeblichen Funktionalität.
Man hat das ja mit der Kunstsprache Esperanto versucht.
Sie konnte sich aber überhaupt nicht durchsetzen. Sprachen
sind sehr komplizierte, lebendige Systeme, die ein Eigenleben
führen und sich nicht von Autoritäten oder Akademien
leiten lassen.

Hans-Joachim Müller: Und doch muss es einen Grund geben,
warum so viele Sprachen in Europa sich mit Anglizismen auf
füllen und sich gerade so den Anschein von Aktualität geben.

Catherine Schelbert: Wie gesagt, es ist eine Frage der Macht und
der Quantität. Das Englische ist auf der Seite der Mehrheit. Es
gibt in der Welt sehr viele Menschen, die Englisch sprechen,
und so entsteht ganz natürlich ein sprachliches Übergewicht.
Die Welt der Technik, der Computer, des Internets, der Musik,
der Filme, der Kunst und der Literatur hat von der englischsprachigen
Welt entscheidende Impulse erhalten. Früher war
das einmal Babylon, Athen oder Rom. Heute ist in den meisten
Handbüchern der Technik Englisch die Basissprache. Das hat
mit der Struktur dieser Sprache überhaupt nichts zu tun. Englisch
ist keine einfache Sprache. Wer die Macht hat, befiehlt -
auch sprachlich.

Hans-Joachim Müller: Man kann wahrscheinlich das Wort «Website»
auch nur zu seinem Schaden übersetzen.

Catherine Schelbert: Frankreich versucht das immer wieder,
z.B. nennt sich da der Computer «ordinateur», die Software?
«logiciel», web = toile, e-mail = couriel, smiley = frimousse,
scanner = numériseur. Nur verkennen solche Versuche, dass
es einer Sprache überhaupt keinen Abbruch tut, wenn sie sich
Fremdwörter einverleibt. Das ist nur fruchtbar. Sprachen öffnen
sich so und entwickeln sich weiter. Auch Slangausdrücke
erfrischen und erneuern eine Sprache. Die Eigenart einer Sprache
geht damit nicht verloren. Wieso sollte man auch Website
oder Desktop, Blog, Cyberspace, Provider, CD-Rom, Browser,
scrollen, googeln, Chat, Homepage oder ... übersetzen? Mich
stören diese Neologismen nicht. Die vielen englischen Wörter
im Deutschen bedeuten in der Regel eine kluge Verschlingung
des Fremden und tragen entscheidend zu Bedeutungsverschiebungen
bei. Umgekehrt auch, wir reden z.B. im Englischen von
«gestalt», «zeitgeist», «weltanschauung», «kitsch» ? Das wird von
der sprachpuristischen Kritik oft vergessen. Wörter werden
übernommen, führen dann aber sofort ein Eigenleben. Denken
Sie an ein Wort wie «Handy», das im Grunde nur so tut, als sei
es Englisch, aber eigentlich eine deutsche Erfindung ist.

Hans-Joachim Müller: Sie leben überwiegend in der Schweiz. Sie
können also an der permanenten Entwicklung der englischen
Sprache nicht so direkt teilnehmen. Ist das für Sie ein
Problem?

Catherine Schelbert: Ja. Nicht nur, weil sich Sprachen von Tag
zu Tag verwandeln. Man vergisst sie auch. Wenn man nicht in
der Sprache baden kann, nonstop, dann verliert man relativ
rasch ihren Puls. Und vor allem vergisst man zuerst das Wichtigste,
das Umgangssprachliche. Heute sagen die jungen Leute
in den USA nicht mehr «that?s cool», heute heisst es «that?s awsome
». Wenn also die jungen Leute in Thomas Imbachs Dokumentarfilm
GHETTO im Deutschen das Wort «cool» gebrauchen,
kann ich bei der Übersetzung der Untertitel dieses englische
Wort nicht übernehmen, sondern muss es wieder in die Moderne
zurückübersetzen, sonst würde die Sprache der Jugendlichen
zu altmodisch wirken.

Hans-Joachim Müller: Um noch einmal auf die Praxis des Übersetzens
zurück zu kommen, welches sind für Sie die entscheidenden
Arbeitsschritte?

Catherine Schelbert: Ich fang einfach mal an, bis ich über ein
Hindernis stolpere, dann arbeite ich mich in die betreffende
Materie ein, ich versuche zu verstehen, was der vorliegende
Text sagen will, ich versuche - vor allem wenn es sich um einen
Text über einen Künstler oder ein spezielles Werk handelt - das
Werk kennen zu lernen. Ich studiere die Kataloge oder recherchiere
im Internet. Doch das Allerwichtigste ist, wenn immer
möglich, mit dem Autor oder der Autorin des Textes in Kontakt
zu treten, mit ihm oder ihr zusammenzuarbeiten. Ich muss auch
wissen, ob eine britische oder amerikanische Version gewünscht
wird. Es ist überaus fruchtbar für meine Arbeit, wenn die Autoren
selber eine Übersetzungsidee haben oder mich zumindest
darauf hinweisen, wo sie sich besser oder weniger gut verstanden
fühlen. Dabei ist es wirklich erstaunlich, wie viele deutsch
schreibende Autoren und Autorinnen sehr genau spüren, wo
die Übersetzung Schwächen hat oder wo der Ton getroffen ist.
Das ist auch ein Grund, weshalb Übersetzen so viel Spass
macht, die Möglichkeit, mit den Autoren zusammen die Übersetzung
so zu vervollkommnen, dass im Laufe der Zusammenarbeit
der Ausgangstext sogar der Übersetzung angeglichen
wird, weil durch die Zusammenarbeit fruchtbare Korrekturen
in beiden Texten möglich waren.
Stellen Sie sich vor, es gibt vielleicht gar keine Originale, es gibt
nur Übersetzungen - das ist eine Frage, mit der sich die Kunst
auch immer wieder auseinandersetzt.
Eine schöne Möglichkeit der Zusammenarbeit wird im «Chasarischen
Wörterbuch» (Milorad Pavi) erzählt. Ich möchte Ihnen
nochmals etwas vorlesen: «Hatte Ben Tibbon ein Kapitel beendet,
gab er die Übersetzung jemandem zu lesen, der sich im
Gehen immer weiter von ihm entfernte, Tibbon aber pflegte
stehenzubleiben und zu lauschen. Mit zunehmender Entfernung
verlor der Text Teile im Wind und hinter den Ecken, gelangte
in Strauchwerk und Bäume, entledigte sich im Schutz von Türen
und Umzäunungen der Substantive und Konsonanten, brach
sich an den Treppenstufen und beendete schliesslich den Weg,
den er als männliche Stimme begonnen, als weibliche, wobei
man in der Ferne nur noch Verben und Zahlen vernahm. Bei
der Rückkehr des Lesenden pflegte sich dann das Umgekehrte
zu ereignen, und Tibbon verbesserte die Übersetzung auf der
Grundlage der Eindrücke, die er bei diesem Lesen im Gehen
gewonnen hatte.»

Hans-Joachim Müller: Ist Übersetzen eine Kunst?

Catherine Schelbert: Falls Kunst mit Können zu tun hat, ist
Übersetzen tatsächlich eine Kunst.

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